Dr Kemper CH

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Niemand kennt Dein krankes Kind so gut wie Du!

Warum ich diesen Artikel schreibe? Weil ich als Ärztin täglich in der Praxis einen grossen Teil meiner Zeit damit verbringe, mit Eltern zur Selbstständigkeit in simplen Gesundheitsfragen zu animieren - immer und immer wieder.

Weil ich als Mutter sehe, dass viele Eltern um mich herum alle Entscheidungskompetenzen in familiären Gesundheitsfragen einfach an den Haus- oder Kinderarzt abdelegieren.

Wir müssen aber m.E. als Eltern wieder eine zentralere und entschiedenere Rolle in Einschätzung, Behandlung und Heilung der Krankheiten unserer Kinder einnehmen.

Jetzt haben wir April 2020 und plötzlich sagt einem der Kinderarzt am Telefon, dass man wegen COVID-19 besser mit seinem kranken Kind daheim bleiben sollte. Die Situation ist insgesamt ziemlich verrückt, bestärkt mich aber umso mehr in meiner Überzeugung, dass Eltern mehr Verantwortung übernehmen sollten und die meisten würden das auch sehr gut machen.

Ein Teil der Arbeit eines Kinderarztes ist die Vorsorge, ein weiterer Teil die Einschätzung und Therapie von Krankheiten. Darüberhinaus gibt es einen Teil, der häufig vergessen wird, oder für den schlicht keine Zeit bleibt - die Ausbildung von Eltern zu kompetenten häuslichen Ersttherapeuten ihrer Kinder.

Viele der Fragen, die ich täglich im Sprechzimmer höre, könnten auch sehr gut von den Eltern selbst beantwortet werden, ohne dass sie dafür den Kinderarzt aufsuchen müssten.

Woran liegt diese (Selbst-)Hilflosigkeit?

Ich frage mich manchmal, ob einfach die Oma fehlt, die selbst 7 Kinder grossgezogen und dafür einmal in 5 Jahren einen Kinderarzt gebraucht hat.
Auch diese Kinder sind gross geworden…

Sonst gibt es ja niemanden, der heutzutage Eltern mit Rat und Tat zur Seite stehen kann, wenn die Kinder krank werden. Viele Kinderärzte haben kaum die Zeit, den Eltern etwas beizubringen - dafür sorgen auch immer mehr die Tarifbestimmungen, welche die Praxiskonsultationszeiten immer mehr verkürzen. Manche Kollegen vertreten auch noch die Einstellung, dass man nur mit Medikamenten heilen kann und Hausmittel oder natürliche Therapie nur Scharlatanerie sind.

Zu Besuch bei Dr. Google

Also was machen wir als Laien? Wir fragen Google um Rat - ohne Zweifel eine unerschöpfliche Quelle an Wissen. Man muss allerdings schon sehr genau wissen, was man braucht und wo man es finden kann, ansonsten ist es schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen.

Offensichtlich wird das Problem bei der Frage, ob ein Kind nur ein simples Wehwehchen oder doch etwas Ernsteres hat. Hier versetzt Google viele Eltern mit einer langen Liste von Differentialdiagnosen (darunter auch Horrordiagnosen) in Angst und Schrecken und der Kinderarzt muss die Wogen dann wieder glätten.

Warum sollten Eltern motiviert sein, mehr über die Einschätzung und Behandlung ihrer Kinder zu lernen?

Es macht mich traurig zu sehen, wie hilflos manche Eltern einer einfachen Erkältung ihres Kindes gegenüberstehen. Ein klassisches Beispiel ist ein Kind, das seit 3 bis 4 Tagen Fieber und Husten hat: die Eltern kommen in die Praxis und berichten, dass sie in dieser ganzen Zeit mehrmals Dafalgan (Paracetamol) gegeben und die Nase mit Kochsalzlösung gespült haben. Das war alles, was sie zu tun wussten. Nun machen sie sich Sorgen, weil ihr Kind nicht gesund wird.

Eigentlich machen sie sich aber Sorgen aus einem andern Grund:

  1. Sie wissen nicht wirklich etwas über Erkältungskrankheiten udn deren Verlauf bei Kindern.

  2. “Dafalgan und Kochsalzlösung” als Allein-Formel reicht selten aus, um ein Kind wirklich gesund zu pflegen.

Allen Eltern sollten bei einer Erkältung 5-6 Hausmittel schnell und einfach in den Sinn kommen, mit denen sie ihre Kinder gesundpflegen können.

Solche Eltern brauchen mich als Kinderärztin nur sehr selten!

Genau das sage ich auch “meinen” Eltern in der Praxis. Nicht selten aber scheuen sich die Eltern davor, Verantwortung für die Gesundheit ihres Kindes zu übernehmen und sagen mir “Sie sind doch der Arzt!”. Das ist der Punkt im Gespräch, an dem ich die Frage stelle:

“Sind Sie sich da ganz sicher? Wollen Sie wirklich die Gesundheit Ihres Kindes nur von mir abhängig machen und die Kontrolle über jedes kleine Problem abgeben?”

Denke mal über die praktischen Konsequenzen dieser Entscheidung nach!

Dein Kinderarzt ist nicht 24 Stunden, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr verfügbar. Viele arbeiten gar nicht mehr Vollzeit. Hast Du dann Vertrauen zu einem Kinderarzt, den Du nicht kennst (und der Dein Kind auch nicht kennt), oder kannst Du auf die Schnelle einen finden?

Der Kinderarzt und sein Wissen bleiben in der Praxis und begleiten Dich nicht nach Hause. Du musst aber auch einen Plan für die restlichen 23.5 Stunden des Tages haben!

Niemand kennt Dein Kind so gut wie Du!

Wer wirklich der Meinung ist, dass der Kinderarzt sein Kind besser kennt als man selber, sollte jetzt die Hand heben. Das galt nicht einmal in Zeiten, als der Kinderarzt die Kinder noch hat erwachsenwerden sehen und umso weniger heutzutage.

Als Kinderärztin weiss ich natürlich mehr als Du über Vorsorge und Therapie bei “Kindern allgemein”.

Du aber weisst viel genauer als ich, wie sich Dein Kind verhält, wenn es ihm nicht gut geht, ob es bei jeder Erkältung hohes Fieber bekommt oder fast nie. Du weisst, ob Dein Kind immer Bauchschmerzen bekommt, wenn es Stress in der Schule hatte. Du weisst, dass bei Deinem Kind jeder Schnupfen mindestens 3 Wochen dauert.

Ich kann Dir versichern, dass Du lange vor dem Kinderarzt merkst, dass mit Deinem Kind etwas nicht stimmt!

Du wirst zuerst merken, dass seine Augen glasig werden, dass es anders oder weniger spielt und dann weisst Du - oh,oh! All diese kleinen Dinge, die einzigartig für jedes Kind sind, hast Du über die Jahre gelernt, ohne an der Uni gewesen zu sein.

Voilà, Du kannst also Dein Kind schon sehr gut einschätzen.

“Aber ich kann doch nicht hexen!”

Das musst Du auch nicht!

Kennst Du vielleicht Eltern, die ein wenig “alternativ” sind und selten oder nie zum Kinderarzt gehen müssen? In diesen Familien läuft alles sehr unaufgeregt ab, auch wenn mal jemand krank wird.

Es ist wirklich alles keine Hexerei - frag einfach mal nach, was die Hausmittel Deiner Bekannten und Freunde sind, dann hast Du schon etwas gelernt. Häufig reicht schon der Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel, ein Fencheltee jeden Wintermorgen oder eine selbst hergestellte Salbe bzw. ein Sirup.

Wenn Du ganz mutig bist, kannst Du Dich auch mit Homöopathie beschäftigen und plötzlich hast Du schon mehrere Therapien im Kopf, ohne ständig erst den Kinderarzt zu fragen, falls Dein Kind mal krank werden sollte.

Was ich damit rüberbringen will ist, dass alle Eltern auch über ein schul- und naturmedizinisches Grundwissen verfügen sollten. Unaufgeregte, ruhige Eltern sind eine gute Therapie für Kinder und in dem Maß, indem Dein Wissen über Einschätzung und Therapien von einfachen Kinderkrankheiten zunimmt, werden Deine Ängste und Unsicherheit abnehmen. Versprochen!

Was nützt Dir medizinisches Grundlagenwissen?

Unabhängigkeit

Wenn Du als Mutter oder Vater einen Plan hast, dann ist alles einfacher und das nicht nur für Dich, sondern gerade auch für Dein krankes Kind. Es bricht keine Panik aus, wenn es mitten in der Nacht ein Problem gibt, oder Dein Kinderarzt wieder mal in den Ferien ist. Du hast genug Grundwissen, damit Ihr schon mal mit der Behandlung anfangen könnt .

Und wenn Du Hilfe brauchst, dann reicht häufig ein Griff zum Telefon und Verwandte oder Bekannte können Euch mit dem Notwendigsten versorgen, während Du dich um Dein Kind kümmern kannst. Du hast die Zeit, den Kräutertee aufzubrühen, Einreibungen zu machen oder was Du sonst noch für wichtig hältst. So wird die Genesung zu einem angenehmen und unaufgeregten Prozess. Diese Ruhe benötigt Dein Kind, um schnell gesund zu werden.

Ruhe

Wenn Du als Mutter oder Vater Ahnung vom Problem und einen Plan hast, dann läuft alles viel ruhiger ab. Es gibt weniger Rennerei, Dein Kind kann in seinem “Reich” bleiben und gesund werden, wenn Du das Heft des Handelns in die Hand nimmst.

Versetze Dich mal in die Lage Deines Kindes. Es ist krank. Es fühlt sich schlecht, hat Schmerzen, Fieber und ist schlecht gelaunt. Was passiert dann normalerweise? Dann kommt die Mami, zieht Dir den Pyjama aus, zieht Dir Strassenkleider an, steckt Dich ins Auto und fährt mir Dir zum Kinderarzt.

Du wartest mit ihr im lärmigen Wartezimmer bis Du untersucht werden kannst. Mit Diagnose und Rezept gehts dann weiter in die Apotheke - wieder warten! Die ganze Zeit über fühlst Du Dich bescheiden und freust Dich nach der Tortur endlich wieder daheim zu sein.

Sicherheit

Wenn Du als Mutter oder Vater Ahnung vom Problem und einen Plan hast, dann gibt das Sicherheit - Dir und Deinem Kind. Davon abgesehen sind Kinder daheim tatsächlich auch sicherer als im Wartezimmer der Kinderarztpraxis, wo alle möglichen Keime rumschwirren. Ich sage den Eltern immer, dass das Wartezimmer der Kinderarztpraxis und die Notfallstation des Kinderspitals sind in dieser Hinsicht die gefährlichsten Orte der ganzen Stadt für ein Kind - naja, die Krippe kommt gleich danach 😅.

Einsparungen

Wenn Du als Mutter oder Vater Ahnung vom Problem und einen Plan hast, dann sparst Du Geld für Arztbesuche, Untersuchungen, Medikamente, Benzin oder unnütze Panikkäufe wie Luftentfeuchter und Luftbefeuchter. Du sparst Dir Zeit, die Du wahrlich besser an anderer Stelle nutzen kannst. Du ersparst Dir Ängste, die Du in keiner Situation wirklich gut gebrauchen kannst.

Geschichte einer Mutter, die die Kurve gekriegt hat

(Ich möchte mich bei Maria M. bedanken, die mir ihre Geschichte aufgeschrieben hat und mit der Veröffentlichung einverstanden war.)

Maria ist eine intelligente berufstätige Frau. Sie hat ein einziges Kind, einen sehr herzigen Wirbelwind. Ihr Wunsch war schon immer, ihren Sohn so natürlich wie möglich grosszuziehen und seit Jahren hatte sie sich zu verschiedenen Gesundheitsthemen belesen und wirklich gute Therapeuten aufgesucht, ohne aber tatsächlich selbst aktiv zu werden in der Beurteilung und Behandlung.

Sie bezeichnete sich als “sehr vorsichtigen, ordnungsliebenden” Menschen, der schnell “in Panik gerät”, und berichtete mir dass sie die schönen Ergebnisse von Homöopathie & Co. zwar gesehen hat, aber immer das Gefühl hatte, viel zu wenig Ahnung davon zu haben um z.B. selbst ein Mittel auszusuchen. Somit war sie ständig dabei, nach den besten Ärzten und Therapeuten zu recherchieren.

Ihre grösste Angst war, irgendetwas falsch zu machen.

Maria war eine meiner ersten Kursteilnehmerinnen. Sie hat sich wirklich mit den Kursinhalten beschäftigt, hat sich eine kleine Hausapotheke zusammengestellt und fing nach und nach über die Dauer eines Jahres an, in kleinen Schritten selbst Verantwortung zu übernehmen.

Immer seltener mussten sie jemanden besuchen, wenn der Kleine mal krank war.

Eines Tages beschwerte sich ihr Sohn frühmorgens über Bauchschweh. Sie untersuchte ihn, fand keine sorgenerregenden Zeichen, und so verlief der Tag auch normal weiter. Zum Mittag gabe es u.a. rote Beete.

Später sassen sie im Auto und plötzlich hörte sie aus dem Rücksitz “Mami, ich muss brechen!!!”.

In diesem Moment war sie auf einer dicht befahrenen Strasse und konnte nicht anhalten - fühlte sich aber nicht gestresst und gab ihm sofort eine Einkaufstüte nach hinten “Jaja, kein Problem! Hier hast Du eine Tüte, ich halte gleich an und helf’ Dir weiter!” Das Erbrochene war natürlich rosa (rote Beete zum Mittagessen…), aber es ging im fast sofort wieder tiptop danach.

An der Kasse ging es dann wieder los. Zur Sicherheit hatte sie vorgesorgt und hatte noch ein Plastiksäckli bei der Hand. Die Kassiererin fragte aufgeregt, wie sie helfen könne und Maria hat sie ruhig um ein wenig Küchenpapier gebeten.

Sie selbst berichtete mir “Vor einigen Monaten noch hätte ich mir niemals vorstellen können, dass ich mich so verhalten kann. Es wäre alles ein Riesendrama geworden, ich hätte sofort die Fassung verloren und hätte gar nicht an die Plastiktüte gedacht, das Auto wäre total voll gewesen und den Rest des Tages hätten wir sowieso beim Arzt und in der Apotheke verbracht. So sind wir direkt nach Hause gefahren, ich gab ihm noch ein homöopathsiches Mittel und nach 24 Stunden war der Spuk vorbei.”

Ich habe Riesenfreude an Maria und bewundere sie dafür. Klar hat sie nicht in der Zwischenzeit Medizin studiert und natürlich ist sie keine Kinderärztin, aber…

…sie hat das Ruder in der Hand und steuert die Familie ruhig auch durch gesundheitlich unruhige Gewässer.

Ihre Besuche beim Kinderarzt oder bei Therapeuten hat sie inzwischen um 80-90% reduziert. Wenn ihr Sohn krank wird, dann muss sie nicht wieder beginnen zu suchen, wer ihr Problem lösen kann, denn viele Probleme kann sie nun allein zu Hause bewältigen.

Säge ich als Kinderärztin mit diesem Artikel nicht an dem Ast, auf dem ich sitze?

Wer mich schon länger von der Praxis kennt weiss, dass ich Eltern schon immer “weitergebildet” habe. Viele haben schon von mir gelernt, bei welchen Problemen sie daheim bleiben sollten und wie sie in diesem Fall ihr Kind behandeln können. Patienten fehlen mir aber bis heute nicht. Die Praxis ist Gott sei Dank immer voll!

Wenn Eltern mir sagen, dass wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben, dann freue ich mich.

Sie wissen, was sie zu tun haben und so können bei älteren Kindern schon mal ein oder zwei Jahre vergehen, bis ich sie in der Praxis wiedersehe. Auch dann handelt es sich meist um eine Vorsorgeuntersuchung oder die Eltern haben andere Fragen gesammelt, die nichts mir einer akuten Erkrankung zu tun haben.